Die Auswirkung aufwühlender Nachrichtenbotschaften auf unser Weltbild

16.06.2021

Begünstigen aufwühlende Nachrichten die Spaltung der Bevölkerung?

von Adriana Sofia Palloks (✉ adriana.palloks@univie.ac.at)

Wussten Sie, dass Menschen Nachrichten u.a. gerne konsumieren, weil sie sie physisch aufwühlen und aufregen? Moderne Nachrichtenberichterstattung enthält zunehmend negative und sensationelle Elemente, um hohe Klick- und Lesezahlen zu generieren. Die Studie von Kommunikationswissenschaftler Ming Boyer deckt auf, dass ausgerechnet diese Form der Berichterstattung die Verarbeitung und die Einstellungsbildung von Rezipientinnen und Rezipienten beeinflusst und sogar zu sozialer Polarisierung führen kann.

Was bedeutet das genau? Boyer stützt sich auf die Theorie des "Motivated Reasoning", die im Bereich der Nachrichtenforschung verwendet wird, um Prozesse der Nachrichtenauswahl und -verarbeitung von Zuschauerinnen und Zuschauern zu bestimmen. Genauer gesagt besagt die Theorie, dass "Bürgerinnen und Bürger die Prüfung von Nachrichten besonders verstärken, wenn sie sich in ihren Überzeugungen oder in ihrer sozialen Identität bedroht fühlen, was zu politischen Einstellungen und Verhaltensweisen führen kann, welche ihre Identität stärken". Boyer kritisiert jedoch, dass die Theorie eine zu vereinfachte Konzeptualisierung des Affekts verwendet und sich nur darauf konzentriert, ob Bürgerinnen und Bürger einen positiven oder negativen Affekt während der Nachrichtenrezeption erleben. Daher bindet er den affektiven Zustand der physischen Erregung ein, um ein umfassenderes Verständnis der Theorie zu erlangen und die Folgen der Erregung, wie sie durch Nachrichten verursacht werden, zu bestimmen.

Das Experiment wurde 2019 mit 191 österreichischen Teilnehmerinnen und Teilnehmern durchgeführt. Dabei wurden ihnen per Zufallsauswahl einer von zwei Nachrichtenbeiträgen zum Thema Migration gezeigt, wobei der Grad der Bedrohung zwischen den beiden variierte. Boyer wählte speziell dieses Thema aus, da Forschungen erwiesen haben, dass Migration ein Gefühl der „Bedrohung für die nationale, ethnische und religiöse Identität der Bürgerinnen und Bürger auslösen kann“. Während der Rezeption führte er physiologische Messungen durch, um das Erregungspotenzial der Probandinnen und Probanden zu ermitteln. Zur Ermittlung der negativen Valenz wurden Elektroden auf die Stirn platziert, welche winzige  Kontraktionen des Muskels messen, der für das Stirnrunzeln zuständig ist. Die Erregung wurde durch Messung der Schweißproduktion in den Fingerspitzen erfasst. Nach Rezeption des Beitrags füllten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einen Fragebogen aus, in dem sie ihre persönliche Einschätzung zur Argumentationsstärke des Beitrags, zur demonstrierten Migrationspolitik und zu ihrer Bereitschaft, Migranten zu unterstützen oder abzulehnen, angaben.

Die Ermittlung der negativen Valenz (unabhängig vom Erregungsniveau) wies gemischte Ergebnisse auf. Entgegen den Erwartungen löste der TV-Beitrag mit niedriger Bedrohung stärkere negative affektive Zustände bei den Rezipientinnen und Rezipienten aus als der TV-Beitrag mit hohen Bedrohungsbotschaften. Das Erleben des negativen Affekts führte zu einer geringeren wahrgenommenen argumentativen Stärke des Nachrichtenbeitrags sowie zu einer ablehnenden Haltung gegenüber der Migrationspolitik, aber überraschenderweise nicht zu einer geringeren Bereitschaft, Migranten zu helfen.

Die Ergänzung der Erregungsdimension zum Affekt erklärte einige dieser gemischten Ergebnisse. Der TV-Beitrag mit hoher Bedrohung führte in Kombination mit Erregung zu einem größeren negativen Effekt mit physischer Erregung. Und genau diese Kombination war der stärkste Treiber des motivierten Denkens. Hoch-erregte negative affektive Zustände führen zu weniger wahrgenommener Argumentationsstärke, weniger Unterstützung für die Einwanderungspolitik und weniger Bereitschaft, Flüchtlingen zu helfen. Ein hoher Erregungszustand fungierte als Katalysator im Rahmen der Einstellungsbildung in bedrohlichen Situationen. So führte beispielsweise negative Valenz in Kombination mit niedrigem Erregungsniveau zu hoher Bereitschaft, Flüchtlingen zu helfen, während negative Valenz in Kombination mit einem hohen Erregungsniveau zum Gegenteil führte: die Bereitschaft sank, Flüchtlingen zu helfen. Boyer stellt fest: "Hocherregende negative affektive Zustände scheinen eine entscheidende Rolle bei 'Motivated Reasoning'-Prozessen in Reaktion auf politische Nachrichten zu spielen."

In Anbetracht dieser bedeutenden Entdeckung, dass aufwühlende bzw. erregende Nachrichtenberichterstattung unsere Einstellungsbildung stark beeinflussen kann, schließt Ming Boyer seine Studie mit folgender Aussage ab: "Journalistinnen und Journalisten verfassen aufwühlende Nachrichten, weil ihre Leserschaft diese Form der Berichterstattung gerne und oft konsumiert. Wie diese Studie jedoch zeigt, spielt dieses 'Aufwühlen' eine entscheidende Rolle bei der Bildung von Einstellungen. Nachrichtenbotschaften, die eine Bedrohung für den eigenen 'Stamm' oder für die eigene soziale Gruppierung darstellen, können sowohl eine negative emotionale Reaktion als auch eine körperliche Aufregung auslösen. In diesem aufgewühlten Zustand ist es wahrscheinlich, dass die Rezipientinnen und Rezipienten die Argumente eines entsprechenden Beitrags ablehnen und ihre persönliche Haltung gegenüber ihrem 'Stamm' begünstigen. Aufwühlende Nachrichten haben demnach das Potenzial, die Gesellschaft zu spalten."


Publikationsdetails

Boyer, M. M. (2021). Aroused argumentation: How the news exacerbates motivated reasoning. The International Journal of Press/Politics. Advance online publication. doi:10.1177/19401612211010577

Die Studie von Ming Boyer, Forscher für Politische Kommunikation an der Universität Wien, untersucht den Einfluss von Erregung (im Sinne von "aufwühlend") auf die motivierte Nachrichtenverarbeitung. Die Studie wurde als Experiment mit 191 österreichischen Bürgerinnen und Bürgern im Jahr 2019 durchgeführt. Während der Rezeption eines Nachrichtenbeitrags zum Thema Migration nahm Boyer physiologische Messungen vor, um den Zustand der Erregung und die negative Valenz der Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu dokumentieren. Anschließend wurden sie gebeten, einen Fragebogen auszufüllen, in dem sie ihre persönliche Einschätzung zur Argumentationsstärke des Beitrags, zur demonstrierten Migrationspolitik und zu ihrer Bereitschaft, Migranten zu unterstützen oder abzulehnen, kundtaten. Die Studie beleuchtet den Effekt aufwühlender Nachrichtenberichterstattung auf den Einstellungsbildungsprozess des Publikums. (Image © Andrea Piacquadio)

Ming Boyer ist seit 2017 Universitätsassistent (Praedoc) am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien. Seine Bachelor- (2013) und Masterausbildung (2016) hat Ming an der Universiteit van Amsterdam (NL) absolviert.

Seine Dissertation, die von Sophie Lecheler betreut wird, untersucht, wie die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen beeinflusst, wie wir Nachrichten konsumieren, aufnehmen und interpretieren. Darüber hinaus untersucht er, wie Nachrichtenkonsum die Zugehörigkeit zu den genannten sozialen Gruppen hinsichtlich der Identifikation mit der Gruppe, Einstellungen, die außerhalb der Gruppe geäußert werden, die "Sicht auf die Welt" sowie generell politische Einstellungen prägt. (Image © Michael Winkelmann)