von Alina Vianne Barr (✉ alina.vianne.barr@univie.ac.at)
Aufgrund des Wandels der Journalismuslandschaft in den letzten Jahren tragen immer mehr nicht-traditionelle, periphere Akteur*innen zum öffentlichen Diskurs bei und stellen die Rolle des Journalismus in der Gesellschaft in Frage. Periphere Akteur*innen versuchen etwa, die Unterrepräsentation marginalisierter Stimmen zu bekämpfen. Die vorliegende Studie widmet sich dem Rollenselbstverständnis dieser Akteur*innen und ihren Bemühungen, sich vom traditionellen Journalismus abzugrenzen.
Im Fokus steht eine spezifische Gruppe von Akteur*innen, konkret "periphere journalistische Akteure, die sich auf Vielfalt konzentrieren" (Englisch abgekürzt: PJADs). Definiert sind PJADs durch ihr gemeinsames Ziel, marginalisierten Stimmen mehr Gehör zu verschaffen und eine diversere Medienlandschaft zu fördern. Sie entwickeln alternative, oft digital-basierte Medienformate, die soziale Ungerechtigkeiten bekämpfen, marginalisierte Gruppen in den Mittelpunkt stellen und dabei grundlegende journalistische Normen wie Objektivität und kritische Distanz hinterfragen. Sie grenzen sich durch die Abwendung von traditionellen journalistischen "Spielregeln" (z. B. Objektivität, Rechenschaft) und kognitiven Rollenorientierungen (normative Werte und Überzeugungen, welche verinnerlicht und im Arbeitsalltag angewendet werden) vom traditionellen Journalismus ab.
Das Rollenselbstverständnis wurde durch 18 vertiefende Interviews mit PJADs in Österreich erhoben. Durchgeführt wurden diese Interviews im Februar und März 2024 in Wien. Der Interviewleitfaden enthielt Fragen zu einem breiten Spektrum von Themen, darunter die Definition von Vielfalt und die Wahrnehmung von Vielfalt in der österreichischen Medienlandschaft durch die Akteur*innen, die Beweggründe für ihre Arbeit, ihre normativen und kognitiven Rollenorientierungen, ihre erzählte Rollenleistung, ihre Erfahrungen mit traditionellen und anderen, eher peripheren Nachrichtenorganisationen und ihre Ansichten darüber, was traditioneller Journalismus zu leisten hat und was den Beruf einer*s Journalist*in ausmacht.
Die Studie identifiziert fünf primäre Rollenselbstverständnisse unter den befragten Akteur*innen. Sie agieren als "Veränderungsakteur*innen" (Change Agents), die den traditionellen Journalismus und die Gesellschaft verändern wollen, indem sie neue Perspektiven einbringen, marginalisierte Gruppen in den Medien sichtbarer machen und den journalistischen Diskurs inklusiver gestalten wollen. Die zweite (selbstdefinierte) Rolle der Akteur*innen ist jene des "Lehrers" (Educator). PJADs sehen sich als Vermittler*innen, die komplexe gesellschaftliche Themen verständlich aufbereiten, um gesellschaftliche Teilhabe – auch für marginalisierte Gruppen – zu ermöglichen. Drittens informieren PJADs gezielt marginalisierte Gruppen, ergänzen so die von ihnen kritisierten Defizite klassischer Medien und streben danach, politische Partizipation von unten zu stärken ("informing marginalized communities"). Auch sehen sich die Akteur*innen als "Watchdogs of the Powerful" und übernehmen somit eine für den traditionellen Journalismus charakteristische Kontrollfunktion in der Gesellschaft, richten dabei ihren Fokus allerdings nicht nur auf politische oder wirtschaftliche Eliten, sondern auch auf traditionelle Medien und deren Berichterstattung. Die fünfte Rolle von PJADs ist die der "Helpers and Service Providers" – sie unterstützen marginalisierte Gruppen, was oftmals weit über eine rein journalistische Tätigkeit hinausgeht, indem sie Workshops, Beratungsangebote oder Community-Treffpunkte organisieren, um so das Leben marginalisierter Gruppen zu erleichtern.
In Bezug zur Abgrenzung ihrer Arbeit zum traditionellen Journalismus nutzen PJADs ihr Rollenselbstverständnis auch als Grenzmarkierungen. Hier haben sich vier verschiedene diskursive Dimensionen der Grenzziehung aus den Interviews herauskristallisiert. Erstens verfügen PJADs über Community-basiertes Wissen, da sie oftmals selbst in die Communities eingebunden sind, über die sie berichten, selbst Erfahrungen mit Diskriminierung und Marginalisierung machen mussten und somit spezielles Wissen für eine subjektive, einfühlsamere Berichterstattung besitzen. Zweitens orientieren sich die Akteur*innen statt an klassischen Nachrichtenwerten wie Prominenz oder Negativität stärker am zivilgesellschaftlichen Nutzen ihrer Berichterstattung für marginalisierte Gruppen. Auch eher unkonventionelle journalistische Praxis grenzt PJADs vom klassischen Journalismus ab. PJADS stellen hierbei Professionalität, wie es im traditionellen Journalismus gelebt wird, weniger in den Vordergrund ihrer Arbeit und sehen einen möglichen Mangel an journalistischem Fachwissen eher als Stärke ihrerseits, da es ihnen die Möglichkeit gibt, Journalismus neu zu denken. Final üben PJADs auch durch ihre Arbeit Strukturkritik aus. Im Gegensatz zum oberflächlichen Diversitätsmarketing traditioneller Medien verfolgen sie einen strukturell inklusiven und machtkritischen Ansatz.
Die Studie erweitert das Verständnis peripherer journalistischer Akteur*innen und zeigt die Vielfalt innerhalb ihres Rollenselbstverständnisses auf. Autorin Kim Löhmann meint abschließend dazu, dass "diese Studie nicht nur die unterschiedlichen Rollenselbstverständnisse journalistischer Akteur*innen in Österreich aufzeigt, sondern auch das transformative Potenzial peripherer Akteur*innen hervorhebt – durch ihre Fähigkeit, den Journalismus infrage zu stellen, herauszufordern und letztlich neu zu denken".
Zur Autorin
Kim Dana Löhmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin (Praedoc) im Projekt Vom Kern zur Peripherie: Grenzen des Journalismus und Mitglied des Journalism Studies Center am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien.