von Adriana Sofia Palloks (✉ adriana.palloks@univie.ac.at)
Die vorliegende Studie entstand in Zusammenarbeit zwischen der Universität Wien und der Victoria University of Wellington (Neuseeland). Im Herbst 2021 nahmen 245 Bürger*innen aus dem Vereinigten Königreich an einem Nachrichten-Experiment teil, in dem untersucht wurde, welche Folgen die Einbettung negativer oder irrelevanter Informationen über Krisenopfer in einem Zeitungsartikel hat. Der Artikel war fiktiv, das Szenario basierte jedoch auf einer realen Krise. Die Erkenntnisse ergänzen die existierende Forschung mit Schwerpunkt Krisenreportagen und liefern einen bisher wenig beachteten Einblick.
Infolge des "Bumpgate"-Vorfalls im Jahr 2017, in den eine der größten Fluggesellschaften der USA, "United Airlines", verwickelt war, wurde ein Passagier aufgrund von Überbuchung gewaltsam von Sicherheitspersonal aus dem Flugzeug gezerrt. Der Vorfall wurde von Mitreisenden auf Video festgehalten und sorgte sowohl in der Presse als auch in den sozialen Medien für negative Publizität für die Fluglinie. Der größte Teil der Berichterstattung konzentrierte sich auf die Aktion der Fluggesellschaft, allerdings wurden in mehreren Zeitungsartikeln auch private und nicht mit dem Fall zusammenhängende Informationen über den Passagier, einen Arzt aus Kentucky, veröffentlicht. Diese Informationen enthielten Verweise auf das Alkoholproblem des Opfers sowie auf Instanzen von unangemessenem Verhalten gegenüber seinen Patient*innen.
Krisenreportagenforschung aus anderem Winkel
Kommunikationsforscher*innen der Universität Wien und der Victoria University of Wellington halten fest, dass sich ein Großteil der Forschungsbemühungen zu Krisenreportagen auf die Auswirkungen einer öffentlichen Krise auf den Ruf von betroffenen Unternehmen – wie in diesem Beispiel United Airlines – konzentrieren. Die Auswirkungen der Krisenberichterstattung auf die Opfer der Krisen und auf den Ruf der Zeitungen sind dagegen kaum erforscht. "Die Auswirkungen von Krisenberichterstattung auf diese Akteur*innen sind aus mehreren Gründen wichtig. Journalist*innen können etwa von PR-Spezialist*innen mit Informationen beliefert werden, die das Opfer in Verruf bringen, um von der Verantwortung des handelnden Unternehmens abzulenken. Die Journalist*innen könnten dazu verleitet werden, sich auf solche Informationen zu beschränken, weil sie wie so oft unter Zeitdruck stehen, diese Nachrichten viel Aufmerksamkeit erregen und sie dadurch ihre Leserschaft erhöhen können", erläutert Studien-Koautorin Sabine Einwiller.
Die Studie erfolgte als Nachrichten-Experiment mit 245 Teilnehmer*innen aus dem Vereinigten Königreich, die per Zufallsverfahren einer von drei Gruppen zugeteilt wurden. Jede dieser Gruppen erhielt jeweils einen fiktiven Nachrichtenartikel, der auf einer tatsächlichen Berichterstattung beruhte und sich auf den oben erwähnten Vorfall von United Airlines bezog, zur Durchsicht. Einer der Artikel bezog sich auf das Alkoholproblem des Krisenopfers, ein anderer auf sein unangemessenes Verhalten gegenüber Patient*innen und der dritte Artikel enthielt keinerlei Informationen über die Vorgeschichte des Opfers. Nachdem sie den Artikel gelesen hatten, wurden die Teilnehmenden gebeten, ihre Wahrnehmungen gegenüber dem fiktiven Zeitungsmedium, in dem der Artikel angeblich erschienen war, sowie dem Krisenopfer anhand von Antwortskalen anzugeben.
Welche Folgen haben irrelevante, negative Informationen über Krisenopfer in Krisenreportagen?
Aus der Studie lassen sich drei zentrale Erkenntnisse über den spezifischen Stil der Krisenberichterstattung ableiten: Zum einen wirkt sich die Einbeziehung negativer Eigenschaften des Krisenopfers – welche für den Verlauf des Krisenfalls nicht relevant sind – nachteilig auf das Ansehen des Nachrichtenmediums aus. Leser*innen erwarten von Nachrichtenschaffenden, dass sie ihre Nachrichtensubjekte (wie in diesem Fall das Krisenopfer) in der Berichterstattung mit Empathie und Respekt behandeln. Wenn diese Erwartung nicht erfüllt wird, leidet das Ansehen des Mediums.
Die Untersuchung ergab außerdem, dass eine negative Berichterstattung über den Charakter des Krisenopfers, die in keinem Zusammenhang mit der Krisensituation steht, dem Ruf des Opfers schadet.
Zudem wird das Empathieempfinden der Leser*innen gegenüber dem Krisenopfer beeinträchtigt, wenn Informationen über ein vermeintliches Alkoholproblem im Artikel intergiert werden. Dies ist jedoch nicht der Fall, wenn im Artikel über seine unangemessene Patient*innenbeziehungen berichtet wird.
Appell an Journalist*innen und Reporter*innen
Die Studie leistet einen Beitrag zur Forschung über die Auswirkung von Krisenreportagen auf Krisenopfer und Nachrichtenmedien. Sabine Einwiller appelliert in Hinblick auf die Ergebnisse an Nachrichtenschaffende: "Journalist*innen müssen sich darüber im Klaren sein, dass ein Verstoß gegen den journalistischen Ethikkodex, indem sie über irrelevante, negative Eigenschaften eines Opfers berichten, nicht nur für das Opfer von Nachteil ist, sondern auch den Ruf ihrer Nachrichtenorganisation erheblich schädigen kann."