COVID-19 und die Digitalisierung des Kultursektors

13.09.2021

Wie die Pandemie als Katalysator bei der Digitalisierung der europäischen Kulturlandschaft fungiert

von Adriana Sofia Palloks (✉ adriana.palloks@univie.ac.at)

Stellen Sie sich vor, Sie könnten eine Ausstellung in einem Museum besichtigen, ohne es zu betreten; oder ein Konzert besuchen, ohne physisch anwesend zu sein. Die COVID-19 Pandemie beschleunigte flächendeckend die Ausbreitung der Digitalisierung, auch im Kulturbereich. Jedoch behindern nationale und transnationale Gesetzeshürden sowie Urheberrechtsbestimmungen die digitale Verbreitung von kulturellen Inhalten in Europa. Der Beitrag der Kommunikationswissenschaftlerinnen Olga Kolokytha und Krisztina Rozgonyi bietet eine Übersicht und kritische Reflektion darüber, wie sich das Programm der Kulturbranche im digitalen Wandel gestaltet.

Um den durch die COVID-19 Pandemie hervorgerufenen Schließungen und den damit verbundenen finanziellen Einbußen entgegenzuwirken, haben kulturelle Organisationen wie Galerien, Bibliotheken, Archive, Museen sowie Organisationen der darstellenden Künste und öffentlich-rechtliche Medien ihr Programm als Archivmaterial (zuvor unzugängliche Inhalte) oder als Livestream zum digitalen "Verzehr" für ihr Publikum zur Verfügung gestellt. So stellten etwa Museen ihre Sammlungen online, das Wiener Konzerthaus streamte vergangene Konzerte kostenfrei, das Londoner Royal Opera House streamte Produktionen und Einblicke hinter den Kulissen, usw. Die hohe Nachfrage nach kulturellen Inhalten spiegelt sich in den 130.000 Anmeldungen für die Streaming-Plattform der Wiener Staatsoper oder in den knapp 35 Millionen unique visits auf den Internetauftritten von öffentlich-rechtlichen Medien wider.

Kulturelle Werke stehen aufgrund ihrer Informations-, Unterhaltungs- und Bildungsfunktion im Fokus des öffentlichen Interesses und unterliegen bezüglich ihrer Verbreitung im Netz den Anforderungen der europäischen Richtlinie zu audiovisuellen Mediendiensten (AVMSD) sowie dem Urheberrecht und den verwandten Schutzrechten im digitalen Binnenmarkt (CDSM). Diese Richtlinien beinhalten eine Reihe von Regelungen, welche u.a. die digitale Distribution audiovisueller kultureller Inhalte zwar erleichtern sollen, allerdings scheitert die Umsetzung bereits an der Eingliederung ins nationale Recht der einzelnen Mitgliedstaaten. Dies äußert sich beispielhaft in der ungleichmäßigen Verteilung kultureller Inhalte in Folge von Geoblocking-Praktiken und territorialen Beschränkungen im Urheberrecht. So können Inhalte meist nur in ihren Ursprungsländern konsumiert werden. Fragezeichen gibt es auch im Umgang mit verwaisten Werken (beispielsweise Bücher, Kunst oder Artikel), deren Urheber oftmals nicht ausfindig gemacht werden können, weshalb die Einwilligung zur Verbreitung der Inhalte in digitaler Form fehlt. Ein Drittel der europäischen Museen beklagten im Jahr 2020, dass Urheberrechtsbestimmungen die Onlineverfügbarkeit ihrer Sammlungen hemmen. Der Bund europäischer Forschungsbibliotheken legte während der COVID-19 Pandemie entsprechend Beschwerde bei der globalen Urheberrechtsorganisation ein, dass Regelungen zum geistigen Eigentum die menschliche Entwicklung nicht hindern sollten.

Für die Einbindung kultureller Inhalte im Netz bildet die EU-Urheberrechtsreform von 2019 ein zusätzliches Problem. Die Haftung für hochgeladene Inhalte auf Sozialen Netzwerken und Online-Diensten wird nicht mehr von den Nutzerinnen und Nutzern selbst getragen, sondern auf die Plattformen übertragen. Diese benutzen automatische Uploadfilter, welche hochgeladene Beiträge auf ihre Angemessenheit prüfen und gegebenenfalls löschen. Kritisiert wird hierbei, dass diese Filter kaum zwischen legalen und illegalen Inhalten unterscheiden können, weshalb ein Kunstwerk, welches Nacktheit abbildet, einfach gelöscht werden könnte.

Um den digitalen Fortschritt von kulturellen Organisationen in Europa nachhaltig vorantreiben zu können, konkludieren die Autorinnen ihren Beitrag mit folgenden Reformvorschlägen: "Wir drängen auf weitreichende und flexible Ausnahmen und Beschränkungen des Urheberrechts für den Online-Zugang zu kulturellen Inhalten bei der Umsetzung der neuen Urheberrechtsvorschriften auf EU-Ebene in nationales Recht sowie auf gezielte und koordinierte Anstrengungen bei der Regulierung großer Online-Videoplattformen, die durch die überarbeiteten und erweiterten europäischen Vorschriften für den audiovisuellen Bereich ermöglicht werden. Wir schlagen außerdem vor, den Anwendungsbereich und die rechtlichen Bestimmungen für audiovisuelle Medieninhalte zu erweitern, um neu entstandene Inhalte von Galerien, Bibliotheken, Archiven und Museen einzubeziehen und deren angemessene Hervorhebung zu gewährleisten, um dem europäischen Publikum eine größere Auswahl an kulturellen Inhalten zu bieten. Wir argumentieren auch, dass dies eine Gelegenheit ist, die Macht des europäischen audiovisuellen Kulturerbes zu nutzen und alternative Geschäftsmodelle zu entwickeln, die als Konkurrenz zu großen Plattformen fungieren und dazu beitragen könnten, die Machtdynamik zwischen der EU und anderen globalen Akteuren neu zu gestalten."


Publikationsdetails

Kolokytha, O., & Rozgonyi, K. (2021). From social distancing to digital un-distancing: COVID-19 pandemic and new challenges in digital policy in the cultural and the audiovisual sector. Journal of Digital Media & Policy, 12(1), 177-184. doi:10.1386/jdmp_00054_7

Der Beitrag der Kommunikationsforscherinnen Olga Kolokytha und Krisztina Rozgonyi von der Universität Wien ist ein Kommentar zur Digitalisierung des Kultursektors. Konkret wird diskutiert, wie es um die Verlagerung der Kulturszene (Galerien, Bibliotheken, Archive und Museen, usw.) von physischen zu digitalen Medien steht, welche Hürden den Prozess der digitalen Transformation ausbremsen und welche kulturellen Businessmodelle eines Tages konkurrenzfähig gegenüber Streaming-Giganten wie Netflix, Amazon Prime und Disney+ sein könnten. (Image © Pexels.com)

Olga Kolokytha ist seit 2015 Postdoc am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien. Ihre primären Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Kultursoziologie, Kulturpolitik sowie Kultur- und Kreativwirtschaft.

Krisztina Rozgonyi ist seit 2015 Postdoc am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien. Ihre Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Medienpolitik, Medienregulierung, IKT Governance & Copyright.